Er hechelt, leckt mehrfach seine Nase, kratzt sich und zieht die Ohren zurück? Ganz normal, sagen Sie? Ein Hund eben? Fehlanzeige. Dieser Hund hat Stress. Und das zeigt er uns deutlich anhand einer Reihe von Übersprungshandlungen, manchmal auch als „Beschwichtigungssignale“ bezeichnet. Zu unterscheiden sind beide voreinander aber ganz einfach: Die Beschwichtigungsgeste ist zielgerichtet, die Übersprungshandlung ist es nicht. Also das hochfrequente Lecken über die Nase, die so genannte "Licking Intention" ist es schon, das exzessive Trinken, Buddeln oder Benagen der Vorderpfoten ist es nicht. Beides sind aber Stresssymptome.
Ein dezenter Stresspegel ist nichts Schlimmes, im Gegenteil, er bereitet den Hund auf spätere Belastungen vor, dient der Aufmerksamkeit und fördert eine schnelle Reaktion. Deshalb ist milder Stress für die Entwicklung eines jungen Hundes essenziell. Anzeichen für milden Stress sind neben den bereits erwähnten oft Gähnen, Schnüffeln, Urinieren, Bogenlaufen oder Schütteln, was aber nicht heißt, dass der Hund jedes Mal, wenn er gähnt oder sich schüttelt, Stress hat. Aber wir kennen diese Anzeichen von der Arbeit am Hundeplatz: Hunde, die in einen Konflikt geraten zwischen „etwas wollen“ und „etwas nicht dürfen“ zeigen uns meist diese Verhaltenskomponenten. Oft sind solche Übersprungshandlungen ein Indikator dafür, dass das Lernen soeben begonnen hat. Ein Beispiel: Wer seinen Hund ruft und wenig bis keine Reaktion erhält, wird eindringlicher rufen, die Stimme wird ärgerlich, die Haltung nach vorne gebeugt, die Stirn faltig. Jetzt beginnt der Hund erst recht, zu schnüffeln, setzt sich hin, kratzt sich hinter dem Ohr, markiert eine scheinbar wichtige Stelle, um zu guter Letzt in einem Bogen betont langsam auf uns zuzukommen. Ein ignoranter Hund, der nicht folgen will? Nein - ein Hund der Stress hat, weil er weiß, was ihn möglicherweise erwartet.
Hoher Stress ist kontraproduktiv, denn dann kann nämlich nichts mehr gelernt werden: Zittern, vor allem Winseln (wie wir es von einer Reihe an Hunden aus reinen Arbeitslinien kennen), das Einziehen des Schwanzes und das Zurückziehen der Gesichtsmuskulatur einschließlich der Ohren sind Indikatoren für einen hohen Stresspegel. Das typische Stressgesicht hat eine nach hinten gezogene Augen- und Ohrenpartie, zeigt viel Weiß in den Augen, die hechelnde Zunge ist nicht weich, sondern gerade und angespannt, die Pupillen sind durch das Adrenalin erweitert, viele gestresste Rüden werden hypersexuell, reiten auf, schachten den Penis aus. Ebenso ablesbar ist Stress an dem Umstand, dass der Hund beim Training nicht mehr frisst oder nicht mehr spielt. Dann ist von der Nebennierenrinde zu viel des Hormons Cortisol ausgeschüttet worden. Und wer sich auf die Flucht vorbereitet, der spielt und frisst eben nicht. Hoher Stress zeigt sich auch dadurch, dass die Haare aufgestellt werden und die Haut extrem schuppt – eine Reaktion, die wir alle sicher beim Tierarzt mit unseren Hunden schon erlebt haben. Ursächlich hat Stress übrigens den Sinn, den Körper auf das, was vielleicht gleich passieren wird, vorzubereiten. Wissenschaftlich gesehen handelt es sich um eine „psychische und physische Reaktion auf äußere Reize, auch Stressoren genannt“.
Durch das, was bei Stress im Körper passiert, kann der Organismus leichter auf körperliche und geistige Belastung vorbereitet werden. Der Körper eines Hundes, der erschreckt oder in Stress gerät, stellt sich blitzartig darauf ein, was jetzt passieren könnte: Der Neurotransmitter Acetycholin sorgt dafür, dass die Hormone Adrenalin und Noradrenalin freigesetzt werden, die wiederum Puls und Blutdruck steigen lassen, das Herz in seiner Leistung und die Atmung in ihrer Frequenz antreiben, die Muskeln besser durchbluten, die Sinne scharf stellen und die Bronchien erweitern, wohingegen „langsame“ Aktivitäten wie etwa die Verdauung herabgesetzt werden. Angriff oder Flucht sind somit vorbereitet. Vier Stunden nach dem Stressereignis ist erwiesenermaßen der Hormonpegel im Blut am höchsten. Das heißt: Wenn wir also wissen, dass unser Hund Stress gehabt hat, empfiehlt es sich, mit ihm zu gehen oder zu laufen, um die Stressbewältigung anzukurbeln und die Hormone wieder abzubauen. Alle Tätigkeiten, die eintönig und gleichförmig sind, eignen sich – aber auch das Liegen, ausgedehnte Massagen, Streicheln und das Schlafen dienen dazu. Zum Abbau von Stress wird übrigens auch der Neurotransmitter Serotonin ausgeschüttet, der dafür sorgt, dass sich die hormonelle Dysbalance wieder einpendelt.
Stress wirkt sich auf vier Ebenen aus: Auf Wahrnehmungsebene werden die Hundehalter fast gänzlich ausgeblendet, der Organismus ist mit dem Fokus auf den Stressauslöser gerichtet und bewertet die Situation. Auf Gefühlsebene werden Reaktionen wie Angst, Ärger, Unruhe etc. erlebt, auf motorischer Ebene zeigt der Hund Muskelverspannungen, Zittern und Zucken und auf hormoneller Ebene kommen die zuvor erwähnten Veränderungen zum Tragen. Die Art der Stressoren schätzt der Hund auf seine Weise ein: Neuartige, unvorhersehbare, unkontrollierbare und unerklärbare Situationen bereiten ihm Stress. Wobei wir zwischen Eustress (positivem Stress) und Distress (negativem Stress) unterscheiden müssen: Ersterer dient einer Energieentladung und macht bereit für Herausforderungen, Letzterer hemmt und blockiert die Leistungsbereitschaft.
Und macht langfristig sogar krank! In erster Konsequenz wird der Hund auf das Fliehen und Kämpfen vorbereitet, dauert der Zustand aber zu lange an, sind die Energiedepots geleert, der Körper versucht, den Normalzustand wieder herbeizuführen und in der dritten Phase - der Erschöpfungsphase, wie sie bei gestressten Tierheimhunden auftritt - kommt oft eine Herz-Kreislauf-Symptomatik oder Magen-Darm-Probleme dazu. Das wahre Problem ist nun der Teufelskreis aus Stress und Wahrnehmungseindrücken: Geschärfte Sinne führen zu Stress, aber Stress begünstigt die Schärfung der Sinne. Umso wichtiger ist es, den Sporthund daheim auf ein absolutes Ruhelevel zu bringen, damit die Hormonbalance wiederhergestellt werden kann. Den Hund also in einer herausfordernden, lustvollen Lebenssituation ohne Unter- oder Überforderung zu halten, sollte unser aller Ziel sein! Ist das nicht der Fall, kann es langfristig zu zwanghaftem, stereotypem Verhalten wie Bellen oder Schwanzjagen kommen, auch extremes Benagen oder Belecken der eigenen Extremitäten kommt häufig vor
Im Hundesport heißt das, den Hund im Training auf ein ruhiges Umfeld und eine ablenkungsfreie Umgebung treffen zu lassen, da instinktive Reaktionen das Lernen und bewusste Denken behindern. Ein gestresster Hund kann nicht lernen, sondern kippt automatisch in sein Instinktverhalten. Das, was den Stress auslöst, kann zahlreiche Ursprünge haben: Eine läufige Hündin, eine Bedrohung - und sei sie auch nur in der Vorstellung des Hundes gefährlich -, viel Unruhe im Haus, lärmende Kinder, die den Hund nicht zur Ruhe kommen lassen, ein aggressiver Nachbarhund, der ständig am Zaun bellt und markiert, zu viel Training, zu lange Beschäftigung, zu intensive Spiele - vergessen wir bitte nie, dass der gesunde, erwachsene Hund 17 bis 20 Stunden am Tag ruht! Beim Welpen und beim Senior sind es 22 Stunden! Ein Umstand, der unendlich wichtig ist und so oft vernachlässigt wird.
Kommentar schreiben